China im Mai /2015

Auf Einladung des Goethe-Instituts war ich vom 19.5. bis 31.5.2015 in China.
Hier ein Reisebericht in Sprachfotos:

Abflug Berlin – Amsterdam  – Peking

Als wäre es ein Zeichen der Zeit: Am Gate E17, wo die Flüge nach Asien abfliegen, quellen die Mülleimer über. Plastik-Essensschalen liegen auf dem Boden, der Papiermüll türmt sich, volle Colaflaschen liegen oben auf kunstvoll gestapelten Müllbergen, und dazwischen winzig kleine Plastikflaschen, die überall herumstehen, eine Flasche für einen Schluck.

Umringt von tief liegenden Ladefahrzeugen steht die Boeing majestätisch da – königlich blau mit verspiegelten Scheiben im Cockpit. Verschnürte Riesenpakete werden eingeladen, von den Ameisentransportern. Paket um Paket, mit Netzen verschnürt, von hier oben sehen sie aus wie von einem Riesen in Packpapier eingewickelte Geschenkdreingaben. Was schenken, was schicken wir China?

Männer fläzen in den Sitzen, wenn ich meinen Sohn so rumhängen sähe, würde ich es ihm verbieten. Die Flipflops übereinander geworfen, die nackten Füße auf den Sitzen, breitbeinig, so dass man allen in ihren Schritt gucken muss. Ich sitze zwischen ihnen und sie reden und ich gehe irgendwie davon aus, sie reden über mich. Sie sind mir unsympathisch, in ihrem Gefläze. Ich denke: Diese Männer haben kein Rückgrat, so hängen sie ab, weich und anpassungsfähig sind sie, rundbäuchig. Ich halte sie für Pekinger. Ich will Stolz in ihren Gesichtern sehen, sehe aber nur etwas Südamerikanisches, Indianisches fast. Irgendwie verwirrt es mich, dass diese lauten, feixenden Männer aus Peking sein sollen. Als ich aufstehe, um mich in die Boarding-Schlange einzureihen, stelle ich fest, dass sie nach Taipeh fliegen werden. Die Männer, die in der Boarding-Schlange nach Peking stehen, sehen ganz anders aus. Weich, rundrückig auch, aber mit einem zurückgehaltenen Stolz in den Schultern, als säße ihnen das Wissen um ihre Weltmacht im Nacken.

Ich sitze direkt über dem gefühlt 50 Meter langen Flügel der Boeing. Er bewegt sich während des Starts. wir fliegen durch Wolken, die sich auftürmen wie runde Eisberge. Ich stelle mir den Piloten vor, wie er doch den visuellen Eindruck haben muss von Festigkeit – man fliegt hinein in eine feste, weiße Substanz – und wie er einfach drauf zuhält und durchfliegt. Das muss seltsam sein. Der Flügel schwankt, biegt sich an den äußersten Ende. Die Turbinen wanken mit. Ich meine mich zu erinnern, nach Amerika auch über den Flügeln gesessen zu haben. Ein gutes Gefühl, für Flugängstige. In der Mitte, so getragen, kann ich mir die Illusion länger aufrecht erhalten, in der Luft sicher zu sein.

Einige chinesische Männer tragen Schnauzer, wie Tom Selleck-Bärte, wie Bärte von Cops aus 80er-Jahre-Filmen, nur fusseliger, sie haben nicht so viel Haar.

Ich meine herausgefunden zu haben, dass die Struktur der kurzen, nach oben oder nach unten auslaufenden Augenbrauen dafür sorgt, dass vielen Chinesen eine verzagte Frage im Gesicht zu stehen scheint. Als fragten sie etwas, bekämen aber nie eine Antwort.

Die Stewardess sagt zu mir, als ich ihr meine Boardkarte zeige: What a beautiful skirt, just marvellous! Are you in fashion business? Ich sage: Danke. Und: Nein. Und denke: Ich hätte auch einfach Ja sagen können. Und stolz darauf sein. Wie ich irgendwie stolz war, an einem der vielen Schalter und Ausweisstationen zu sagen: Ich fliege nach China, nach Peking.

Mein Sitznachbar lässt sich einen Becher Milch bringen. Ich dachte, Chinesen vertrügen keine Milchprodukte?

Wir fliegen über unbesiedeltes Waldland, ab und zu glänzt ein See silbern in der Sonne. Dann kommt eine wie glatt abgeschnittene Wolkenwand. Es wirkt, als schwebe ein weißes blechfüllendes Baiser in der Luft. Wir fliegen darüber hinweg und kurz darauf dämmert es nur Nacht.

Warum bin ich früher nie auf die Idee gekommen, eine Stützstrumpfhose zu tragen und Ohropax mitzunehmen? Als ich die Dinger in die Ohren drehe, wird das laute Flugzeuggeräusch runtergedimmt  auf eine Lautstärke, als sprudele neben mir nur noch ein Wasserkocher. Jetzt, da ich sie rausnehme, kann ich gar nicht glauben, wie die anderen um mich herum diesen Lärm neun Stunden ausgehalten haben.

Die Chinesen sind weiche Männer, keiner von ihnen herb attraktiv. Die Chinesinnen müssen ihre Männer trotzdem attraktiv finden. Ein sehr großer, gutaussehender, aber auch babyhaft wirkender Niederländer wartet am Klo. Ich denke: der muss Chinesinnen auch absurd erscheinen, so ein großer blonder, irgendwie knubbeliger Mann.

Mein chinesischer Sitznachbar zieht die Nase mit einem Geräusch hoch, dass ich erschrecke. Als schrabbele seine ganze Speiseröhre mit. Es fehlt das Ausspucken, ich warte drauf. Er muss einen Riesenbatzen runterschlucken, oder wo sonst ist der hin?

Im Anflug auf Peking zu, der eine Dreiviertelstunde früher beginnt, ist eben noch graues Bergland, dann plötzlich alles, aber auch wirklich alles besiedelt und bebaut. Hochhäuser, wie aufgestellte Legosteine, in senfgelb und karmesinrot. Blaue Blechdächer, eng an eng, umrunden die Legosteine. Kein Land mehr zu sehen, nur gezirkelte Felderflächen, die aussehen, als würden sie morgen bebaut werden.

Ein Mal Grün noch: ein Golfplatz, durch den Hochspannungsmasten laufen, die fast so hoch wie die den Platz umrundenden Hochhäuser sind.

Die Natur ist hier nur noch ein Überbleibsel, eine Erinnerung. Was war das noch mal, wozu brauchte man das?

Später, in den Ziergärten, überfällt mich derselbe Eindruck. Die Natur wurde hier jeher gestaltet, gebeugt, beschnitten, ästhetisiert. Sie ist verschwunden, und was man nicht erinnert, vermisst man auch nicht mehr.

Die Landebahn ist gesäumt mit kleinen Hütten, Dächer und Sonnenschutz aus Plastiktüten. Die Hütten beginnen gleich nach dem Stacheldraht. Einige Bewohner haben ihre Wäsche zum Trocknen in die Drahtlöcher gehängt.

In Berlin stand ein Fuchs auf dem Grünstreifen zwischen den Startbahnen. Hier fährt ein stupsnasiger LKW mit einer weit gespreizten Spritzvorrichtung über das Gras und verteilt offenbar Unkrautvernichter oder etwas anderes. Das Gras auf den Flächen ist braun, kurz oder fast ganz verschwunden.

Für eine 20 Millionen-Stadt wirkt der Flughafen beschaulich, erinnert mich an den kleinen Flughafen im Süden Chiles, Blechhallen, Betonplattenwege, rostiger Stacheldraht, Busse, die wirken, als seien sie seit den 1970er Jahren im Einsatz. Nur ein gutes Dutzend Flugzeuge. Ich warte auf die Riesenhalle, die Riesenmenge, auf was Großes.

Und dann kommt es: Ein Komplex aus Hallen mit Gürteltierdächern. Er erstreckt sich, soweit ich schauen kann. Lang, immer noch länger. Nur docken auch hier nur ein paar, wie ausgewählt wirkende Flugzeuge an, Azerbaijan Air neben uns mit baku2015.com stolz auf die Seite gedruckt.

Die Chinesen stehen alle auf, während das Flugzeug noch rollt. Die holländische Stewardess guckt, als kenne sie das – lässt sich nichts machen. Da hilft keine Ansage. So sind sie, die Chinesen. Packen ihre Taschen, laufen los, bevor wir überhaupt angedockt sind.

Am Taxistand wartet ein Jüngling vor uns, der aussieht wie eine Kopie eines der Tokio-Hotel-Sänger zu Beginn ihrer Karriere. Auf dem T-Shirt und auf der Kappe des jungen Mannes steht in großen weißen Lettern: THE BOY.

Eine lange Rolltreppenfahrt hinunter. An der Wand gegenüber ein wandfüllendes Gemälde, ein sozialistisches Motiv, ein bisschen Hundertwasser reingemischt. Je näher ich mit der Rolltreppe komme, desto genauer sehe ich es: Es ist kein großes Bild. Es ist ein geknüpfter Teppich. Ein Teppich von der Fläche eines großzügigen Doppelhauses, würde ich mal sagen. Hängt hier so. In einem Flughafennebenterminal.

Überall das Lachen: Eine lächelnde Handtasche, ein Paar Schuhe mit lachenden Mündern darauf. Wie das Lachen in den Bildern des zynischen Realismus. Hier begegnet mir das Lachen wieder. Bei fast allen Models auf Billboards sind die Mundwinkel so mit Photoshop nachbearbeitet, dass ihr Lachen wie eine Karikatur wirkt. Es ist die kleine Ecke drüber, die es unglaubwürdig macht. Aus vielen Logos lacht es. Die schüchterne Kellnerin im Hotel: Als ich mich bedanke, bricht es aus ihr heraus, das Lachen.

Aber ich sehe wenige Menschen in den Straßen, die lachen. Ein Mal eine sehr alte Frau mit einer anderen. Beide haben nur noch zusammen ein vollständiges Gebiss. Beide lachen sie aus vollem Herzen. Und ein Kind sehe ich, das lacht. Gut, und eben die Kellnerin. Später, noch mal, in der U-Bahn, das kehlige Lachen eines Amerikaners.

Frau Ningxin sagt: Über diese Humorlosigkeit wird viel gesprochen. Dass die Chinesen so humorlos geworden seien. Im Internet kursierten noch viele Witze. Auch über die Partei. Und über die Reichen. Ich lese später: Früher war es ein krasses, für viele unaussprechliches Szenewort, zu sagen: Ey, du Penis. Jetzt sagen das viele zueinander: Ey, du, der dir nur dein Penis bleibt…. Es scheinen viele Witze von und über die Menschen in Umlauf zu sein, die sich so fühlen, als hätten sie alles, bis auf ihren Penis, verloren.

Am Fuß jeder Rolltreppe warnt mich eine elektronische Stimme, erst auf Chinesisch, dann auf Englisch: Stand firm, hold the handrail. Stand firm, hold the handrail. Ab und zu eine Aufpasserin mit Walkie-Talkie, die Rolltreppenfahrende an ihre Pflicht erinnert. In einem Tonfall wie eine supergenervte Mutter, die meisten parieren. Ich lese, dass die Handläufe mit einer sich selbst desinfizierenden Folie überzogen seien, überwinde aber trotzdem nicht meine Widerstände, mich an die Aufforderung halten zu sollen.

David Beckham macht für mehrere Produkte Werbung. Kein anderer amerikanischer Star taucht hier auf den Billboards auf, nur der feminin wirkende David Beckham, alle Tätowierungen sorgfältig versteckt oder gleich wegretuschiert.

Wir fahren an einem Ladenlokal vorbei, das Men’s Girls House heißt. Toller Name, denke ich, für ein Bordell oder eine Peep Show oder einer der Sex Toy Läden, über die ich gelesen habe, was auch immer hinter den mit weißen Satingardinen verhängten Fensterscheiben stattfindet.

Männer sind hier Männer, die Frauen versuchen, so lang wie möglich Mädchen zu bleiben. Sie tragen Rüschenröcke, mit rosa Schleifen im Haar, Leggings und Schuhe in Farben, die es bei uns nur in die Kinderabteilung bis Größe 116 schaffen.

Auf einem weiträumigen begrünten Autobahnauge stehen mannshohe rote Leucht-Schriftzeichen. Frau Ningxin liest mir vor: Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Harmonie, Sicherheit, Wohlstand. Dann sind wir vorbeigefahren. Das Parteiprogramm in Kürze, sagt sie. Ich frage: Demokratie an erster Stelle? Sie lächelt ihr verschmitztes Lächeln.

Die Legoklotz-Wohnhäuser, die Straßenstränge, die Fußgänger-Überführungen, die Malls, ganze Blocks und Straßenzüge wirken wie für den Moment gebaut. Zukunft ist jetzt. Morgen baut man eben was neues. Etwas noch größeres. Einfach das, was man dann eben braucht.

Die deutschen Autos (geschätzt jedes 2. Auto, Audi oder VW) wirken wie Teile aus einer anderen Zeit und Welt. Wie schwarze, schwere, glänzende Dinosaurier, alle sauber poliert, mit verdunkelten Scheiben. Sie gleiten durch die staubige Luft. Weil wir keine Elektroautos herstellen, verpesten wir mit die Luft der Welt, mit unseren Autos. Später erfahre ich: wirklich jedes zweite Auto in China ist ein deutsches Fabrikat.

Volkswagen wirbt mit dem Slogan FAW-Volkswagen. Erst lese ich FAN-Volkswagen. Dann einmal die Werbung: DAS AUTO. DAS WELT AUTO. Wir produzieren Autos für die Welt, die dann in den Megastädten dieser Welt zu Stauschlangen werden.

Der Autoverkehr ist wie ein anarchischer Tanz. Fahrradfahrer fahren entgegen der Richtung, schlängeln sich zwischen den abbiegenden Limousinen hindurch. Mopeds kreuz und quer. Die kleinen E-Roller dazwischen (für Frauen in weiß-rosa, für Männer in grau-schwarz). Oft mit Kindersitz hinten dran, in dem auch mal ein Hund sitzt. Kein Mensch trägt einen Helm. Es wird nicht viel gehupt. Man schlängelt sich umeinander, gerade beim Abbiegen. Überall auf der Welt scheint der Verkehr so zu funktionieren. Eher wie ein aufmerksamer Tanz, eine alltägliche Improvisation in Rücksichtnahme und Vorfahrt. In Deutschland schaffen wir es noch nicht einmal, uns an einer Kreuzung selbst zu organisieren, wenn mal die Ampel ausfällt. Ein Amerikaner sagt später zu mir: Das mache doch was mit einem, wenn man als Taxifahrer fünfzig Mal am Tag geschnitten wird, oder einer an einem vorbeiprescht und du immer der Volltrottel bist. Wie die so ruhig bleiben könnten? Er wäre auf der Fahrt zwischen Flughafen und Innenstadt mehrmals fast ausgestiegen und hätte den anderen Autofahrern am liebsten eins überpoliert.

An der Außenseite, vor den Fenstern der rasend schnellen U-Bahn flimmert eine LED-Werbung, ein langes Band, während wir fahren, sehe ich den Film, es ist futuristisch und zugleich ruckelt es noch, weil die LED-Screens nicht gleichmäßig an die Wand geschraubt wurden. Ansonsten hätte ich den Eindruck gehabt, es ist eine Hologramm-Projektion, die dort hinter den Fenstern läuft, irgendwie auf die Luft vor den spiegelnden Außenseiten der U-Bahn-Fenster projiziert.

Vom Tian’anmen-Platz wird nichts mehr ausgehen. Er ist ein Hochsicherheitstrakt mit Kontrollen wie an einem amerikanischen Flughafen. Und eine Touristenattraktion. Durch beides ist er als politischer Ort mit symbolischer Kraft vernichtet worden.

Sie spricht mich an mit einem Kompliment – ich sähe so jung aus. Ihr Englisch ist hervorragend und wir kommen ins Gespräch. Sie erzählt mir, sie sei zu einer Hochzeit hier in Peking, stamme eigentlich aus einer anderen Stadt, und mache selbst gerade Sightseeing. Ob ich mich für die Altstadt interessiere? Klar. Will gerne abseits des Touristenstroms laufen. Wir reden über das Schulsystem in China, über das Kinderkriegen, sie erzählt mir, sie sei seit einem Jahr geschieden, wir reden darüber, ob es schwierig sei, als Frau allein in China. Sie führt mich durch die Altstadt, gedrungene graue Backsteinhäuser, Büschel aus Stromkabeln, ab und zu rollt ein Moped an uns vorbei, schaut ein alter Mann aus einem Türspalt, an einer Baustelle bleibe ich stehen und betrachte die Neugestaltung eines Innenhofes. Das alte Königspalast-Viertel, wer hier wohnt, der besitzt mindestens vier Autos, dafür die großen Garagen. Dennoch eine Public Toilet, sie will mir das öffentliche Pinkeln nebeneinander zeigen, ich muss noch nicht.

Sie fragt mich, ob ich Lust hätte einen Tee zu trinken. Ja, klar. Ich finde sie einfach nett und das Gespräch mit ihr perlt so dahin. Sie findet, wie durch Zufall, dieses Teehaus, ein Raum mit drei kleinen Extra-Zimmern, am Entree sitzt eine ältere Chinesin, hinter ihr eine Reihe Bordeaux-Flaschen, ein paar Whiskey-Sorten, es gibt auch Tee. Coco, so hat sich mir die junge Chinesin vorgestellt, ordert Tee. Wir trinken, essen einen kleinen Snack, es ist kühl unter der Klimaanlage, unser Gespräch stockt ein wenig, sie wirkt langsam nicht mehr so begeistert von meinen vielen Fragen. Noch ein kleiner Aufguss und ich denke, es ist besser, wenn wir bald gehen, biete mich an zu zahlen und bekomme eine handgeschriebene Quittung. Kann den Kurs nicht umrechnen, habe noch keinen Plan, wie viel 880 Yuan sind, denke, wird schon in Ordnung sein, zahle. Coco sagt, jetzt musst du aber noch auf Klo. Ich: Ja. Sie hat es plötzlich ganz eilig. Public Toilet, zwei andere Frauen hocken nebeneinander über den Bodenlöchern, Coco hockt sich auch hin und sagt mir noch: Hier an den Haken vor mir kannst du deine Tasche hängen. Ich hänge meine Tasche – zum Glück, aber das wird mir erst später klar – nicht dort hin, sondern habe sie beim Hocken um, was unpraktisch ist, ich muss Rock, Tasche, Jacke alles hochhalten, hänge frei über dem Loch. Sehr lustig, so zu pinkeln, sehr seltsam.

Wir verabschieden uns: Nett, dich kennengelernt zu haben. Ja, ganz meinerseits. In der U-Bahn gehe ich an einem Plakat vorbei, auf dem ein edel aussehendes Fahrrad so viel kostet wie der Tee, den wir gerade getrunken haben. Ich gehe auf der Rolltreppe ein paar Stufen zurück nach oben, will schauen, ob ich mich nicht verguckt habe. 880 Yuan für das Fahrrad. Mein Herz fängt an zu klopfen.

Rufe Jiang Ningxin an und erzähle es ihr. Am nächsten Morgen fahren wir mit dem Taxi in die Straße, ich bin relativ sicher, das Teehaus wiederfinden zu können. Aber mache mir wenig Hoffnung – wie auch Jian, sie geht davon aus, es wird lange dauern, bis hier was passiert.

Ich finde den Laden wieder. Die Rollläden sind heruntergelassen, ein Sicherheitsmann um die Ecke, am Tor zur Verbotenen Stadt, empfiehlt die Polizei zu rufen, sie müssten in fünf Minuten da sein, als Freund und Helfer. Sie sind nach acht Minuten da und der junge, höfliche Polizist telefoniert kurz. Zwei Minuten später steht die ältere Chinesin vor mir, die Coco und mir den Tee gebracht hat, mit der Summe von gestern, gerolltes Bargeld, in der Hand. Der Polizist sagt streng auf Englisch zu mir: Der Laden wird jetzt aber wirklich geschlossen, das kam hier so schon öfters vor. Die ältere Chinesin, übersetzt er mir, entschuldige sich sehr bei mir. Wir wahren alle unsere Gesichter und nicken uns zu und bedanken uns und gehen, und Frau Ningxin lacht, als wir weiter weg sind, wie ich, wir können es nicht ganz fassen, was das jetzt war und wie schnell es ging.

Ich hätte der älteren Chinesin gern was angemessenes für ihren Tee und die Chips gegeben, aber das hat mir der Polizist verboten. Ich denke an Coco, und zolle ihr Hochachtung dafür, wie perfekt sie mir etwas vorgespielt hat. Wie sie einfach all das erzählt hat, was ich hören wollte. Wie sie das war, was ich sehen, erleben wollte. Die Glaubwürdigkeit ihrer Geschichte, ihrer Erscheinung. Sie trug westliche Kleidung und eine große Buddha-Kette, der ich sofort, vielleicht noch vor allem, Vertrauen schenkte.

Mir fällt der kleine Moment in der Public Toilet wieder ein, wo ich meine Tasche, in der sie mein Bargeld und auch meine Kreditkarte gesehen hatte, vor sie an den Haken hätte hängen sollen. Ich male mir aus, was gewesen wäre, wenn. Wäre sie aus der Hocke hoch, während ich noch über dem Loch hänge, und weg mit meiner Tasche? Durch die Labyrinthgassen der Altstadt? Hätte sie das gemacht?

Ich male mir aus, wie die ältere Chinesin Coco anruft und ihr berichtet, dass sie das Geld eben im Beisein eines Polizisten zurückgeben musste. Dass der Polizist ihr mit Schließung gedroht habe. (Was, laut Frau Ningxin, eher nicht passieren wird. Zu seltsam, dass der Polizist gleich die Telefonnummer hatte, dass alles so schnell ging). Etwas Genugtuung fühle ich doch. Ich glaube, noch vor einiger Zeit hätte ich das alles einfach akzeptiert, mir gedacht: Was soll’s, bist du halt zu dumm gewesen. Hast einen Tee für einen Betrag getrunken, für den du ein Fahrrad hättest kaufen können.

Aber irgendwas war anders. Ich zolle dir Achtung, Coco. Für die Geschichte, die du erfunden hast. Für die Perfektion, mit der du mich getäuscht hast, selbst Geschichtenerfinderin. Du hast mir den Blick auf ein hochinteressantes Spiel eröffnet: die Täuschung. Die Täuschung unter Frauen.

Ich gehe mit dem Gefühl raus: Adaptiven, autoritären Gesellschaften gehört die Zukunft. Traurig, aber wahr. Seinen Naivitäten oder Illusionen nachzuhängen, macht einen angreifbar. Kann einen, in größer gedachten Dimensionen, vernichten. Die adaptive Kraft ist eine spielerische Kraft. Verbandelt mit staatlicher Autorität ergibt das eine undurchschaubare, mächtige Mischung. Das konnte ich mit dir lernen, Coco.

Fahre noch einmal mit der U-Bahn in die Innenstadt. Esse dort in einer kleinen Garküche eine gute Suppe, mit allen möglichen Dingen darin, die ich nicht identifizieren kann. Die Köchin fragt mich mit Gesten: Wie war’s? Ich mache, etwas albern, den Daumen nach oben. Sie lacht. Wir winken.

Draußen streiten sich Männer vor einem Container, der auf die Straße gestellt wurde, und aus dem jetzt Lebensmittel geladen werden. Es wirkt wie ein Abverkauf gleich an der Containertür. Geschrei, alle in der kleinen Gasse drehen sich um und schauen, was passiert.

Auf dem Rückweg zur U-Bahn-Station sehe ich eine Gruppe Fahrradfahrer, Studenten, so wirken sie, alle mit westlichen Rennrädern, offenen Hemden, engen Hosen und leuchtenden Turnschuhen. Wie sie über die riesige Kreuzung fahren, sich den Platz nehmen, die Autos umkreisen, das hat etwas Rebellisches, eine spitzbübische Freude. Sie sind schnell – eben noch da, schon wieder weg. Vielleicht ist das die Form von Protest, die noch möglich ist.

Mir kommt ein Mädchen entgegen, das ein T-Shirt mit der Aufschrift HELMUT trägt. Später sehe ich eines, auf ihrem Shirt steht in schwarzen Buchstaben EINSTEIN. Das Mädchen lächelt mich an, als seien wir Komplizinnen.

Eine Frau in der U-Bahn stellt eine blaue Mülltüte ab, darin ein Riesenbär, der wohl auch ein Sessel ist. Sie setzt sich auf den Bärsessel. Sie rafft ihr Longshirt bis in die Taille, ihr ist heiß. Mir fallen die zahlreichen Preisschilder auf, die noch am Saum ihres Longshirts hängen.

Peking – Qingdao

Der Bahnhof für die Fernzüge ist wie das Olympiastadion, noch größer, eher drei- bis vierfach so groß. Ein Sternenkranz aus Gleisen führt vom Gebäude weg, von oben gesehen, von der kreisförmigen Empore aus, auf die das Taxi fährt. Die Hochgeschwindigkeitszüge sind ultra flach, mit einer langen aerodynamischen Nase – dagegen wirkt ein ICE behäbig. Taschenkontrolle wie am Flughafen, Kartenkontrolle am Gleiseingang, die Tickets sind personalisiert, Ausweise vorzeigen, die Fahrt runter auf einer glänzenden Rolltreppe, das Untergeschoss ist ein edelstahlglänzender Science-Fiction-Space, und wir steigen in den Zug, bekommen ein Wasser und Snacks gereicht, und gleiten los.

Und dann die Brüche: Durch das ländliche China, nach einer weiteren Satelliten-Stadt mit unendlichen Legohochhäusern und blauen Blechdächern – wieder Land, Felder, Menschen bearbeiten mit Holzhacken trockene Rillen. Kleine Erdhügel dazwischen, mit Blumen darauf oder roten Papiergebinden. Gräber, sagt Jiang Ningxin. Dort beerdigen die Menschen vom Land ihre Toten. Drum herum pflanzen sie ihr Gemüse und Reis. Später stehen auf einigen Hügeln Grabsteine, oftmals sind es zwei, drei Hügel nebeneinander, so bleiben die Lebenden mit den Toten zusammen.

In der Reihe vor uns sitzt ein Mann und schaut auf dem neuesten, dem großen iPhone 6 Homeland an. Carrie Mathison hier zwischen Peking und Qingdao zu sehen freut mich irgendwie. Der Mann trägt, das sehe ich kurz darauf, auch die Apple-Uhr. Und er telefoniert von einem kleineren iPhone. Nur seine Gummisohlen-Schuhe sehen billig aus, sie passen nicht zum Rest seiner Ausstattung.

Überhaupt bin ich mit meinem alten Handy hier ein Fossil. Ein europäisches Vergangenheitsfossil, ein Mensch, der mit einem KLM-Kugelschreiber Dinge in ein kleines Notizbuch kritzelt. Es kommt mir wie was ganz Skurriles vor, mit der Hand schreiben. Wie eine Tätigkeit, die suspekt ist. Wie ein Spion aus dem kalten Krieg. Aus der Zeit gefallen.

 

Qingdao – Guangzhou

Ein Eisberg aus Styropormüll hinten auf das Moped geschnürt. So fährt der Mann entgegen der Fahrtrichtung direkt auf unser Taxi zu. Unerschütterlich. Als wäre das weiße Plastik ein Naturereignis, das Vorfahrt hat.

Nur, weil es mir jetzt schon zum dritten Mal begegnet: Europäisch wirkende Manager tauchen immer zu zweit auf. Sie umgibt eine Aura von Selbstgewissheit. Wie: Wir haben es geschafft. Wir gehören dazu. Wir sind Teil der Geschwindigkeit, des Erfolges, des Geldes. Stets sind sie in Begleitung einer bildschönen Chinesin. Vielleicht eine Übersetzerin? Geht sie mit in die Verhandlungen? In welcher Funktion begleitet sie die Männer? Gerne würde ich eine jede fragen, was ihre Aufgabe ist. Jede dieser Frauen bewegt sich vorsichtig, mit Abstand, aber dennoch mit einem eigenen, fast hoheitlichen Unberührbarkeitsstolz.

In allen Werbungen spielen Schauspieler mit, Männer wie Frauen, die sehr europäisch wirken, große Augen haben, helle Haut, hohe Wangenknochen die Frauen. Und die Männer eher amerikanisch-kantig aussehen, mit austrainierten Körpern. Die Chinesen, die ich um mich herum sehe, sehen anders aus.

Chinesische Nachrichten zeigen Bilder vom Krieg in Syrien. Bilder von Soldaten, die einem alten Mann helfen. Obdachlose Kinder, weinende Frauen. Bilder, die man bei uns eigentlich nicht mehr zeigt. Alle Bilder sagen: Habt Mitleid mit diesen Menschen. Feuer. Brennende Säulen, Felder voller Zelte und Müll. Wie bei CNN laufen zahlreiche Laufbänder mit Schriftzeichen durch die Bilder.

Qingdao sieht etwas aus wie Barcelona, nur eben in richtig groß. Das Meer, die Küste, die Küstenstraße, die verspiegelten Banken-Türme, die Versicherungsgebäude, Kongresszentrum-Superbauten – alles ist groß, größer, richtig groß. Ich denke immer, hier hört die Stadt doch jetzt wieder auf, da fängt sie gerade wieder an. 10 Millionen Einwohner, lerne ich, und gerade erst wird eine U-Bahn gebaut. Einfach mitten quer durch die Stadt.

Die ganze Nacht ruft ein Vogel im Hof. Ich zähle seinen Rhythmus, immer acht Sekunden zwischen seinen Rufen. Irgendwann macht er eine Pause, dann schlafe ich. Als ich aufwache ruft er wieder im Acht-Sekunden-Rhythmus, dieser unermüdliche chinesische Vogel.

Gegenüber des Seminarraumes ist das Wohnheim. In den Loggias hängen die Studenten ihre Wäsche auf. Überall baumeln BHs, Jeans, weiße T-Shirts. Direkt dahinter, so wirkt es von hier aus, fangen Berge an, spitze Hügel mit kleinen sandigen Wegen im Grün. Ich muss daran denken, gelesen zu haben, dass ein Tom-Cruise-Film in China gedreht wurde, in dem er an Hausfassaden entlangkletterte, an denen ständig Wäsche auf Leinen hing. Bevor der Film in China anlief, forderte die Zensur, dass alle Wäsche aus den Bildern herausretuschiert wurde, um den Eindruck von Modernität und Makellosigkeit zu erwecken. Eine Menge Arbeit.

Die engagierte, begeisterungsfähige, dynamische chinesische Professorin fragt mich durch die Übersetzerin, was ich als Frau den Studentinnen hier mit auf den Weg geben würde. Ich rede über Mut, bitte sie darum, ihre Geschichten zu erzählen, dass sie den Mut haben, ihre Sicht der Dinge aufzuschreiben, wie wichtig das sei, auf der ganzen Welt, gerade die Perspektive von uns Frauen. Ich spüre, dass wir alle genau wissen, worum es geht, dass wir uns alle sehr genau verstehen, obwohl wir zur reinen Verständigung die Übersetzung brauchen.

Die Stewardessen im Gang der Southern China-Maschine stehen in einer Reihe und verbeugen sich synchron. Ihre Gesichter – jede für sich – eine Skulptur. Wie modelliert, Augenbrauen, Mundpartie, Wangenknochen. Wie mit Photoshop nachbearbeitet. So unvorstellbar ebenmäßig, so schön. Ich muss immer wieder hingucken, ob sie echt sind.

American Sniper läuft als Film auf allen Bildschirmen. Maschinengewehr-Salven, Splatter, Kriegszenen, Blut spritzt, erschossene Männer, Frauen, Kinder – und gelbe chinesische Untertitel unter allem. Das Ehepaar neben mir ist noch vor dem Start eingeschlafen, wie viele andere Chinesen auch. Ich kann nicht schlafen, aber auch nicht richtig hinsehen, so grausam realistisch ist der Film. Viele Chinesen schlafen aufrecht, im Sitzen, mit geradem Kopf, gefalteten Händen, als könnten sie jede Sekunde wieder aufstehen und das weiterbearbeiten, was sie bis eben gemacht haben.

Das Flugzeug wackelt. Wenn es in die Chinesische See fällt, soll es wohl so sein. Zu den Turbulenzen American Sniper anzuschauen und anzuhören, macht mich fertig. Doppelte Packung Realität und kein Entkommen.

Für alles gibt es eine gute, funktionierende App, erzählt Oliver Müller. Sie kommt auf den Markt und sie läuft. Das macht die Anwendungen so populär. Dahinter steht meist Alibaba, das Konsortium, glaube ich, die Multimultimilliardäre nach ihrem Börsengang. Aber sie produzieren einfach Sachen, die laufen, sagt er. Das Taxi-App, das Marketplace-App, das Twitter- und Ebay-Ersatz-App.

Ich löse den FREE NETWORK SOCKET im Hotel lieber gleich wieder von meinem Rechner, um nicht mehr online zu sein. Das Schild über dem Plug sagt mir klipp und klar, dass ich das Kabel nicht an einen Router anzuschließen habe, oder sonst ein Firewall-Equipment.

Der Fernseher im Wohnzimmer meiner Suite ist nicht von seiner Fabrik-Klebefolie befreit. Als hätte man das Hotel schnell eingerichtet und ihn vergessen. Er steht etwas traurig da, über 52 Zoll, unbenutzt, jungfräulich, überflüssig irgendwie, da im Schlafzimmer noch mal ein etwa 70 Zoll großer Bildschirm steht.

Die Autobahnaugen sind im Grau der Asphaltwüsten Blumenoasen: liebevoll angelegte Gärten, rosafarbene, rote Primelwiesen in Wellenmustern, Buchsbaumhecken, Rosenbüsche, Bonsaibäume, Pappeln, Eukalyptus und diese Bäume mit den fächerartigen Blättern, von denen ich vergessen habe, wie sie heißen. Ein alter Mann in Warnweste hat dort sein Fahrrad im Schatten einer Zeder geparkt und pflückt Verdorrtes aus einem gelben, überbordenden Butterblumenbeet.

Am betonierten Ufer geht ein Mensch entlang, der einen pinkfarbenen Schutzanzug trägt, als halte er sich in einem Seuchengebiet auf. Seine Gasmaske ist neongelb. Er sticht aus der Betonfarbe um ihn herum, hinter ihm ragen Wohnhochhäuser auf, 30, 40 Stockwerke hoch. Ganz oben, über den Dächern, fliegt ein Drachen. Ein Kinderdrachen. Nur ab und zu zu sehen in der dunstig-grauen Pekinger Luft.

Blickachsen: Immer auf der Kuppe einer Autobahnüberführung schaue ich in die zwei Himmelsrichtungen, die kreuzen. Ich sehe jedes Mal eine Schlucht aus Straße, Autobahn, Hochhäusern, so lang, bis alles im Dunst verschwindet. Ich ahne, auch dahinter, hinter dem Dunst, hört die Stadt noch lange nicht auf.

Bahnfahrt raus aus Peking: Kurz außerhalb, als die Stadt für Minuten ausläuft in räudige Felder, fängt die nächste Stadt an, ich habe ihren Namen vergessen. Wälder aus Hochhäusern werden gerade hochgezogen. Auf dem Feld davor sehe ich einen Bauer in einer roten Hose, er harkt mit einer Spitzhacke den braunen Boden.

Und wir sollen ein Hochspannungsmast-Problem haben? Wir fahren entlang an einem Wald aus Strommasten, wirklich einem Wald. Neue Masten glänzen noch silbern, eine Trasse wird gerade aufgebaut, die Fundamente gegossen, es ist die fünfte Trasse neben der Bahnstrecke, laublose Riesenbäume, über ihre Kabelfäden verbunden.

Im Zug ein von der Partei entwickelter Werbefilm auf allen Bildschirmen (flankiert, sehe ich später, durch eine große Plakat-Kampagne): für die alten Werte, für das Achten der Familie, ehre die Alten, pflege die Harmonie, lebe harmonisch, übersetzt mir Jiang.

Immer wieder zwischen den Häuserschluchten, den kurzen Strecken mit Feldern, Wiesen, kommen diese Müllhalden, an deren Rändern Menschen ihre Hütten aus Planen und Holzresten, Paletten und Bambusstäben gebaut haben.

Wie klein die Menschen auf den Feldern wirken. Unendlich klein im Vergleich zu den Strommasten, den Hochhäusern, den Bürotürmen am Horizont.

Der Himmel ist ein Ort, der bebaut werden muss. Die Fläche der Erde in die Luft erweitert, so schaffen die Chinesen Platz für sich. Immer wieder wird mir gesagt: Jeder ist froh, in so einem Hochhaus zu wohnen.

Die Texte der Studenten erzählen von kleinen Hinterhöfen, in denen sie glücklich waren, Wäldern mit Sandwegen, auf denen sie spielten, Gemischtwarenläden, die nach Kleidung und Essen rochen, in denen sie als Kinder glücklich waren, sich sicher fühlten.

Ich habe keinen Text gehört, der von einer Hochhauswohnung erzählt, als einem schönen Ort. Aber womöglich wurden die auch nur nicht vorgelesen.

Eine Delegation aus gleichgekleideten Männern (schwarze Hose, kurzärmeliges Hemd) schreitet eifrig, dynamisch, über ein Feld. Am Rand des Feldes, auf dem Feldweg, sehe ich fünf Autos, schwarzglänzende Mercedes-Limousinen, die Fahrer stehen abseits, warten und rauchen.

Ein Handy klingelt, mit einer chinesischen Kling-Klang-Version von ‚Spiel mir das Lied vom Tod’.

Guangzhou

Im Hotelzimmer steckt eine teebeutelgroße Tüte zwischen den Seifen. HOT SENSE OF steht darauf. Ich denke, eine wärmende Duschseife oder so. Ich fühle, als ich die Packung zwischen den Fingern halte, das Kondom darin, und muss an einen Artikel denken, den ich gelesen habe, über junge Chinesinnen, die sehr erfolgreich eine ganz neue Art von Sex-Shops gründen, alles online natürlich, aber mit exklusiven Showrooms in den Metropolen.

Im Frühstückssaal: Hauptsächlich wird salzig gegessen, genau das, was auch zum Mittag oder am Abend gegessen wird. Vielleicht etwas weniger Fisch, mehr Ei, aber genau so viel Fleisch. Auf dem Tresen, an dem das Toastbrot und die Croissants angeboten werden, steht eine Gartenzwergfigur in den Farben der französischen Flagge. Ein kugelrundes, tumb aussehendes Männchen, die Karikatur eines Pariser Kellners – so sieht man vielleicht, in chinesischer Vorstellung, bald aus, wenn man ständig dieses weiße Brot isst.

Nachts quaken die Frösche – Bullenfrösche? – auf der Wiese zwischen den Uni-Gebäuden auf dem Campus. Es hat den ganzen Tag geregnet und die Wiese sieht aus wie ein Reisfeld, bewässert bis zu den Halmspitzen. Die Frösche quaken lauter als die Transportmopeds, die vorbeirasen.

Die Studierenden fahren auf alten, vom Klima angerosteten Fahrrädern über die Campuswege, nachts, ohne Licht, kreuz und quer, einige rufen freudig Hello! als sie uns drei Ausländer im letzten Augenblick in der Dunkelheit erkennen.

Die Klimaanlagen-Kästen kleben wie Pickel an den gekachelten Hochhauswänden.

Es geht nicht um die eigenen Bedürfnisse hier. Identität war und ist nichts, wonach gesucht werden soll. Auch wir Deutschen bringen das Thema hier hin. Eine Studentin schreibt eine Abschlussarbeit über Identitätsfragen in der neuen deutschen Literatur. Sie sei in Deutschland gewesen, dort sei ihr das erste Mal klar geworden, dass sie auch Bedürfnisse habe, Wünsche, Sehnsüchte. Und dass das nicht die ihrer Eltern seien. Als überbehütete Einzelkinder muss eine ganze Generation jeweils allein die Ansprüche, die an sie herangetragen werden, erfüllen. Hohe Ansprüche – an das, was sie machen, wie sie es machen, dass es zum Wohle der hart arbeitenden Eltern ist.

Das ist eigentlich die wahre Gefahr für einen autoritären Staat – wenn die junge Generation versteht, dass sie ein Recht hat, ihre eigenen Bedürfnisse einzufordern. Nach langer Zeit des Verdrängens von Individualität und eigener Identität ist das Eigene verschüttet. Aber es ist deutlich zu spüren, dass diese Fragen nun, da existentielle Bedürfnisse befriedigt sind, virulent werden.

Wenn diese junge Generation erkennt, was ihre eigenen Bedürfnisse sind – ein wahrer Wandel. Das Erkennen der eigenen Bedürfnisse ist eine Emanzipation, ein Ankommen in der eigenen Wahrheit. Das wünsche ich den jungen Studierenden. Das ist – meine ich wahrzunehmen –, neben dem Deutschlernen für die deutsche Wirtschaft, auch ein Grund für das Interesse an Deutschland.

Im hinteren Teil des Teeladens sitzen an einem niedrigen Verkaufstisch ein Mann und sein vierjähriger Sohn. Der Mann spricht Englisch, sein Sohn malt mit einer geometrischen Schablone Kreise und Quadrate auf ein Papier. Der Mann schaufelt den Tee aus einer Plexiglaskiste in eine Tüte. Ein Krümel, ein getrocknetes Blatt fällt auf den Tisch. Der Junge hebt, obwohl mitten beim Malen, mit zwei Fingern das Teeblatt auf und legt es zurück in die Plexiglaskiste.

Zum Abschied winken sie beide, synchron, auch Erwachsene winken in dieser ganz kindlichen Art und Weise.

Wir sind die Erinnerung, wir sind – in Europa – nur noch der Hintergrund. Erinnerung ist notwendig für Identität. Aber man kann auch ohne sie leben.

In den Workshops schreiben die Studierenden Erinnerungstexte, berührende kleine Miniaturen aus einer Zeit, von der sie dann immer selbst sagen, dass die vorbei sei. Sie wirken, als erstaune es sie, dass sie das in sich tragen, diese Erinnerungen.

Wir gehen in einen Galerie-Laden, der Art Derivate heißt. Nebenan, auf dem ehemaligen Industriegelände, gibt es Etherreality and Oblivion. Nachgemalte van Goghs, Rodin-artige Skulpturen, dazwischen chinesische Möbel. Wie ein Wohnvorschlag: so richtet man sich mit Kopien in einer Ätherrealität zusammen mit dem Vergessen ein.

Wenn wir in good old Europe noch wo die Nase vorn haben wollen, dann müssen wir Meister im Neuerfinden werden. Können wir das noch? Sind wir das? Haben wir dazu genug Ambiguitätstoleranz? Die Chinesen halten ein Leben in extremen Widersprüchen aus. Ihre Ambiguitätstoleranz scheint grenzenlos. Es ist eine wichtige Grundfähigkeit für Kreativität. Wer Widersprüche so schnell wie möglich beseitigt, vergibt sich die Chance auf eine neue Erfindung, eine Synthese aus These und Anti-These.

In der Einkaufstraße sprechen mich alle paar hundert Meter Chinesen an und zeigen mir ohne Scham Fotos von Gucci-Taschen, Chanel-Gürteln, Rolex-Uhren. Alles Kopien. Good prices, for you, Madam. Später erfahre ich: Chinesinnen kaufen keine falschen Taschen oder Gürel. Sie wollen die Originale. Wir sind es, die die Kopien unserer Erfindungen kaufen wollen.

Alles in allem geht es hier nicht um das Finden von Synthesen. Die Widersprüche werden einfach ausgehalten. Mit einer Art stillstehenden, duldsamen, übergroßen Toleranz. Wird erwartet, dass der Staat sie auflöst?

Im hyperneuen Hotel der Campus-Uni: Auf der Fahrt runter aus dem 11. Stock hält der Fahrstuhl auf jeder Etage. Menschen steigen ein und aus. Im Hintergrund immer die hochwertige Holzvertäfelung, die Tresen mit den chinesischen Vasen, Spiegel, Blumentapeten. Als wir auf der 4. Etage halten und sich die Fahrstuhltüren öffnen, klafft dort eine Baustelle. Das Stockwerk ist noch offen. Die Türen schließen sich wieder. Ich bin sicher, ich habe halluziniert. Später erzählt mir Sanaz, dass die Zahl vier so ähnlich wie Tod klingt, und diese Etagen als letztes fertig gebaut werden.

Ein Mal in der ganzen Zeit in Guangzhou höre ich eine Polizeisirene. Ich muss an New York denken, und wie sie dort immer gegenwärtig sind, zum akustischen Bild gehören.

Im Fahrstuhl vor mir ein kleiner Mann im typischen blauen Kurzarmhemd und in schwarzen Anzugshosen mit hohem Bund, so dass es wirkt, als hätte er einen sehr kurzen Oberkörper und lange Beine. Ich sehe, dass er seine grauen Haare schwarz gefärbt hat, und mir fällt der Satz aus einer Reportage ein, dass das ein Zeichen für Parteizugehörigkeit sei: Bei den Sitzungen des Nationalen Volkskongresses sähen die alten Männer alle identisch aus. Identische Anzüge, identische Hemden und eben auch identische Haarfarben.

Wir betreten ein Café und es ist der schönste Ort, der harmonischste Ort, den ich seit langem gesehen habe. Ein ausgeprägtes Gefühl für Schönheit, Harmonie, Stil. Dunkle Holzmöbel, Seidensatin-Bezüge, grobes Leinen. Buchenblattgrün, Grau, Schwarz, rauher Betonfußboden und alte Industrielampen. Der Caffe Latte, wie er hier auch heißt, wird mit einer Blume aus Milchschaum serviert, ein üppiges Blumenherz sogar. Wie geht dieser tiefe Sinn für Schönheit, für Harmonie in Räumen, für natürliche Stoffe, für eine das Herz beruhigende Gestaltung zusammen mit dem Wohnen in diesen Betonbunkern, zwischen Plastikzeug, in der Feinstaub-Luft und dem ewigen Lärm?

Der Dschungel, die üppige Vegetation, ragt durch das Gitterfenster des öffentlichen Klos. Lianen-Blätter hängen bis zum Waschbecken.

In einem Laden gibt es Socken zu kaufen, auf denen USA steht. Wie eine Reminiszenz, diese Socken, die USA als eine Sockenmarke.

Die Dschungel-Natur in Guangzhou könnte jeden Augenblick die Granitböden, die Betonwände, den Asphalt, das Plastik, die Leucht-LED-Schriften überwuchern und unter sich begraben. Sie könnte, sie könnte. Sie ist noch nicht ganz gezähmt.

Nachts – das zuckende rote Neonlicht, eine mit Postern beklebte Brandmauer, dahinter ein Kolonialzeit-Gebäude. Der Nebel und dann: eine Front aus den Lego-Wohnhochhäusern, die ganze Front entlang. Aus Nebel wird Regen, ein Platzregen und dann Fäden, die vom Himmel hängen. Es ist eine Kulisse aus Matrix. Und wie darin die Menschen im bläulichen Licht ihrer Smartphones sitzen, jeder für sich, und nicht aus der Narkose aufwachen wollen. Wozu die Aufwachpille nehmen? Das Ende jeder Illusion, die uns am Leben hält, tut weh.

 

Im Anflug auf Guangzhou kamen bis kurz vor der Landung keine Lichter in Sicht. Ich war davon überzeugt, gleich auf dem Meer zu landen, oder in einer erneut umgeleiteten Maschine zu sitzen, die sonstwohin fliegt. Eine Minute, eine halbe vielleicht auch erst, vor der Landung fliegen wir aus dem Nebel heraus. So tief hängt der Himmel hier. So ragen die Hochhäuser in den Nebel hinein.

Im Badezimmer eines jeden Hotels, das Vanity Kit. Ich denke: to vanish oder Vanitas? Vanity? Das Verschwinden? Die Eitelkeit? Ein Kit zum Verschwinden? Ein Kit für die Eitelkeit? In jedem Bad wieder schaue ich in das Vanity Kit hinein und stelle mit Überraschung fest: Ach ja, Ohrreiniger und Abschminkpads. Zwischendurch wieder vergessen, was im Kit verschwindet.

Der Fernsehsender heißt CCTV 13, wie das englische CCTV im öffentlichen Raum, die Überwachungskameras, die Plätze und Straßen abfilmen.

Eine Miesmuschel in dem gewässerten Plastikbecken am Eingang des edlen Restaurants spritzt eine kleine Fontäne in die Luft. Rüber bis ins nächste Becken, wo Myriaden aus Krabben liegen in ihren kleinen zylindrischen Häusern.

Die Austern, weiter unten in einem Becken, scheinen zu atmen, so bewegt sich die Wasseroberfläche über ihnen, in einem langsam schwingenden Takt.

Das iPhone eines Mädchens hat einen Aufsatz, was das Gerät aussehen lässt, wie eine Nuckelflasche, eine Hightech-Apple-Babyflasche mit transparentem Nuckel.

Ich werde gefragt, ob ich eine Feministin sei – und ein Raunen geht durch das Publikum, eine Neugier plus die Schrecksekunde, dass sich eine Studentin getraut hat, den deutschen Gast so etwas so direkt zu fragen. Ich sage sehr genau, was ich denke und dass ich nach einem femininen Feminismus suche und dass es sehr wichtig ist, dass wir als Frauen, weltweit, unseren Blick sichtbar machen. Uns einmischen, Stellung beziehen, den Mut haben, ein Leben zu leben, wie wir es leben möchten. Ich spüre, wie genau ich verstanden werde, hier, und dass die patriarchalen Strukturen in unseren Gesellschaften sich nur graduell unterscheiden.

Das satte Grün der Palmen im Monsunregen: Die Blätter sehen aus wie mit Lack überzogen.

Der Leiter der Bibliothek ist ein kleiner Mann in Kurzarmhemd und hochbündiger Hose, er beugt sich nach hinten, wenn der selbstbewusste chinesische Autor mit ihm spricht. Um den Mund herum wirkt es, als zittere er, wenn er lächelt. Aber er ist einfach nur sehr filigran. Das ist das Wort, was seine ganze Erscheinung beschreibt.

Der Regenschirm, den hier in Guangzhou jeder bei sich hat, wird am Eingang in eine Plastiktüte verpackt, damit er nicht tropft. In Geschäften gibt es Gratis-Regenschirme, man bringt sie später vielleicht zurück.

Der Himmel leuchtet papayarot, ein Weltuntergangsrot, Götterdämmerung, Feinstauborange, das letzte Licht bricht sich in den Partikeln, so wirkt es, wirklich das Ende der Welt, zusammen mit dem Regen.

Die Garküche, in der wir sitzen (selbst Gemüse in eine Schüssel gesammelt, kurz in der Küche angebraten) könnte auch in New York und ein Place-to-be sein. Nur kleine Unterschiede: Ungesicherte Stromkabel kommen direkt neben unserem Tisch aus der Wand, von einer Klopapierrolle holt man sich ein Stück Serviette, der junge Typ neben uns schlürft und schmatzt laut und genüsslich sein Essen. Und irgendwann geht die Besitzerin vor die Tür und verspritzt eine Flasche scharfen Alkohols auf den Gehweg. Unterm Arm trägt sie eine Schale mit einem angezündeten Räucherstäbchen und verschwindet einfach für eine Zeit in ihrer Gasse.

Die Masseurin sieht genauso aus wie Björk. Sie hat das Gesicht der jungen Björk. Obwohl nur zur Fußmassage, wird mein Rücken durchgewalzt und geknetet, sie zieht mich zurück auf ihre Knie, drückt sie in meinen Rücken, vibriert wie ein Massagesessel unter mir. Als sie mit meinem Nacken fertig ist, habe ich das Gefühl, sie hat meinen Kopf neu auf den Hals gesetzt.

Taschenrechner sagen die Zahl auf ihrem Display mit elektronischer Stimme laut vor. Auch die Fahrkartenautomaten oder die U-Bahn-Rolltreppen haben Stimmen. Ich wache nachts auf, weil neben mir, ganz nah, so eine Computerstimme war, die etwas auf Chinesisch gesagt hat. Ich mache das Licht im Hotelzimmer an und horche. Nur der Verkehr braust über die Uferstraße.

Jede Brücke, die über den Perlfluss führt, ist nachts beleuchtet – in changierenden LED-Pop-Farben, die Stahlseile hoch hinauf bis in den Himmel, es ist alles zu bunt, zu schrill, zu viel, aber ich kann nicht anders, als sagen: es ist spektakulär. Die Schiffe, die darunter durch fahren, sind an ihren Kanten mit LED-Leuchtschnüren geschmückt, fahrende weiß-rot gerippte Gebilde. Um 11 Uhr abends wird plötzlich alles ausgeschaltet und nur noch die Bürotürme in Downtown leuchten in den Nebelhimmel.

Unser Taxifahrer redet laut mit sich, ich versuche herauszufinden, ob er ein Headset trägt und da hinein redet. Es scheint aber so zu sein, dass er einen imaginierten Mitfahrer neben sich anspricht und auf dessen Antworten reagiert. Als er uns etwas fragt, schreit er nach hinten, durch die Gitterstäbe hindurch.

Sie kommt auf mich zu, sehr dünnhäutig, und fragt, warum meine Figuren immer zwischen Einsamkeit und Zugehörigkeit schwanken würden. Ob das so sei? Und ob es eine Lösung gebe? Ich meine, ihr anzusehen, dass sie für sich fragt: Ob es eine natürliche Regung sei, sich zurückziehen zu wollen. Es ist die natürlichste Regung der Welt, die Fliehkraft, und doch wollen wir zu einer Gruppe gehören, wollen mit anderen Menschen sein. Dieser Widerstreit der Gefühle wird überall verstanden. Wir reden über Literatur und reden eigentlich über uns. Sie wirkt gelöst, plötzlich, zufrieden, bedankt sich, als hätten wir uns gerade etwas geschenkt.

Es geht um Mut. Überall. Wir sind mit unserer Suche nach Identität vielleicht etwas weiter, wir konnten sie schon länger betreiben. Aber das Bedürfnis, für sich selbst Antworten auf diese Fragen zu finden – Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Wer muss ich sein? Wer könnte ich sein? – ist nahezu in der Luft zu greifen.

Geschichten sind Gefäße für diese Fragen, diese Suche. Geschichten sind global in diesem Sinne. Wir verstehen uns als Menschen. Kein Ausweichen mehr: ich hab jetzt den Mut, diese Geschichte zu erzählen. In meine Ängste hineinzugehen, bis ans Ende der Nacht. Dort liegt sie, von dort muss ich sie zurückbringen.

Eine Professorin eröffnet einen anderen Blick: Wenn es die Ein-Kind-Politik nicht gegeben hätte, gäbe es heute vielleicht 2,5 Milliarden Chinesen. Die Reglementierungen dienen uns allen, auf der gesamten Welt. Gerade die chinesischen Frauen zahlen einen hohen Preis dafür.
180 Männer auf 100 Frauen: man sagt, es gibt eine Schlange aus Männern, Männer, die in der Schlange stehen und auf eine Frau warten. Die sie – rein rechnerisch – nur schwer finden werden können.

Der beliebteste SMS-Sound ist ein Vogelzwitschern, das täuschend echt klingt, wie eine Amsel, aber auf voller Lautstärke. Ich höre es überall, meist auf Rolltreppen, zwitschert es vor oder hinter mir.

Man wird durch Plakate dazu aufgefordert, zu lächeln, den Vater zu ehren, Mücken zu töten, den Müll zu trennen. Man soll aufräumen, nicht spucken, hilfsbereit sein, und – wenn ich die Piktogramme richtig deute – zum Benutzen von scharfen Putzmitteln angehalten, um Kakerlaken und Ratten zu vernichten.

In der Beijing Lu, der großen Einkaufstraße, stehen Verkäuferinnen mit identischen Schürzen und Kappen in einem Kreis. Eine Einpeitscherin scheint sie aufzustacheln, dass sie klatschen und schreien, als planten sie einen gemeinsamen Angriff auf einen Feind.

In einem Schuhladen passiert mir dasselbe: Aus kaputten Lautsprechern quakt Musik. Plötzlich wird sie ausgeschaltet, ich denke, sie haben bemerkt, dass der kaputte Musik-Lärm verkaufsschädigend ist. Dann fangen alle Verkäuferinnen an zu rufen, zu klatschen. Quer durch den Laden. Es klingt, als wäre gerade das 1000 Paar Schuhe verkauft worden. Die Musik wird gleich darauf wieder angeschaltet.

T-Shirt-Mottos, die ich mehrmals sehe: CHINA GLORY und THE SAME IS LAME.

Ich sitze einer alten Chinesin in der U-Bahn gegenüber, selten sieht man graue Haare hier, sie trägt eine Leggings und ein etwas schmuddeliges T-Shirt. Wir steigen an derselben Station aus. Ich laufe über einen Markt, durch eine Markthalle, Kaninchen werden frisch gehäutet, Fische mit Axtmessern geköpft, lebende Hühner mit zusammengebundenen Beinen, es riecht nach der Stinkfrucht, nach Fischmarkt, Fleisch und Blut, nach der Chemie aus der billigen Kleidung, nach Gummi- und Plastikschuhen, nach reifen Bananen, nach warmen Körpern und Benzin. Plötzlich steht mitten in dem Marktgedränge ein brauner BMW X3. Wie der hier reingekommen ist. Als ich zurück zur U-Bahn laufe, die Gerüche und die Hitze verlasse und die Treppe in die Air-Con-Kühle hinuntergehe, geht die alte Chinesin wieder neben mir, ihre Tasche gefüllt mit Gemüse und Obst.

Im Teeladen, mitten in den Marktgängen. Wir verständigen uns durch Zeichensprache. Ich kaufe Pu-Erh-Tee und Oolong-Tee. Der Taschenrechner sagt den Preis. In einer Vakuumpresse verpackt die ältere Chinesin den Tee aufwändig. Dann soll ich mich setzen. An den Tisch. Noch einen Tee trinken. Oolong? Oolong. Ich würde es am liebsten mit einer Kamera aufzeichnen, ihre fließenden Bewegungen, wie sie den Tee zubereitet: Zeigefinger, Wasserkocher an, Teesud in Schale aufgegossen, mit einer Untertasse diesen Aufguss einmal umgerührt, durch einen Spalt den Tee in eine Glaskanne gießen, die Kanne zwei Mal im Kreis schwenken, ihn in die Miniaturteeschale gießen, die sie vor mich geschoben hat. Wir verständigen uns, wie gut der Tee ist. Sie macht diese Bewegungen drei, vier Mal, immer wieder kommen nur zwei Portionen heraus, für sie, für mich.

Eine müde Chinesin lehnt an einer flachen Granitsäule und führt ein Spielzeugauto vor, das senkrecht nach oben fährt und dann um die Säule kreist. Sie wirkt so müde, so erschöpft von dieser Vorführung, als speise sich dieses Fahrzeug und wie es das schafft, an der Wand zu kleben, aus ihren Kräften.

Meistens folgen die Verkäuferinnen mir, sobald ich einen Laden betrete, in einem Meter Entfernung. Eine junge Verkäuferin auf sehr hohen Schuhen kommt direkt auf mich zu, hält ihre hell gefärbten Haare an meine und freut sich und scheint ihre Kolleginnen zu fragen, wie das aussehe. Colour, colour, sagt sie zu mir, ich sage: the same, sie freut sich weiter und niemand im Geschäft scheint mehr daran zu denken, mir etwas verkaufen zu wollen.

Durch das Herunterkühlen mit Air-Condition wird es erst möglich, in diesen Tropenregionen schnell zu sein, schnell zu arbeiten. Es ist ein Tiefkühl-Kapitalismus an Orten, an denen man in der Luftfeuchtigkeit und der Hitze eigentlich kaum leben kann.

Hongkong

Das Ticketoffice und der Eingang zum Zug nach Hongkong wird zum Irrweg. Ich werde in ein Hotel geschickt, fahre in den 2. Stock, weil es mir so gesagt wurde, drehe um, da hier doch nur Hotelzimmer sind, soll eine Treppe hoch, auf der STOP-Schilder stehen, schließlich erbarmt sich ein junger Polizist und bringt mich zu einer Rolltreppe, die ins Obergeschoss des Bahnhofes führt. Raumhohe Warnschilder, was man alles zu beachten hat, wenn man ein Ticket nach Hongkong kauft. Unschwer zu erkennen, dass es den Chinesen nicht leicht gemacht werden soll, in die Sonderverwaltungszone, nach Kowloon oder Hongkong auszureisen.

Dass es an den Rändern der rasant wachsenden Millionenstädte vergleichsweise wenige Favelas oder Slums gibt, hat mit der Geburtsrecht-Regelung zu tun, lerne ich. Wo ein Chinese geboren ist, hat er das Bleiberecht. Dort auch nur hat er ein Anrecht auf seine Sozialleistungen. Wandert er aus in eine andere Stadt oder Region, wird er zum Bürger zweiter Klasse. Oder sogar dritter, vierter, fünfter Klasse, wenn er aus weit entfernten Regionen kommt. Dann doch eher in der Region bleiben. Das erklärt vielleicht das Anwachsen aller Bezirksstädte, das zusammengepferchte Wohnen in diesen Metropolen.

Alle Flächen der Klapptische im Zug sind beklebt mit Werbung. Schauspieler, die Interviews geben, halten zusammen mit den Mikrophonen, in die sie sprechen, skurrile Fächer fest, auf denen mindestens ein Dutzend Sender-Logos prangen. Von den Seiten werden weitere Logo-Fächer ins Bild gehalten, so dass die berühmten Gesichter dahinter fast verschwinden.

Das russische Mädchen neben mir im Zug erinnert mich an das, was Sanaz mir erzählte: hier leben viele junge Models, die osteuropäisch aussehen und dann auf chinesisch light geschminkt werden. Man möchte das Chinesische nicht zu stark in der Werbung – dann lieber eine dunkelhaarige Russin mit hohen Wangenknochen und Kussmund. Nach einer Weile sehe ich, dass sie an Beinen und Armen komplett rasiert war, jetzt wachsen ihre feinen Härchen stachelig nach.

Das Klo im Zug – obwohl, wie überall, ein Loch im Boden mit Trittrillen an jeder Seite – riecht besser als jedes ICE-Klo, das ich bisher betreten habe.

Von unten wachsen dicht gewebte Teppiche aus Kletterpflanzen an den Autobahnstehlen hoch, überwuchern den maroden Beton, wachsen an den Schallschutzwänden hoch.

Hatte davon gehört, aber es wieder vergessen: Baugerüste, noch für das höchste Hochhaus, werden aus Bambusstäben gebaut. Alles: die Senkrechten, die Waagerechten, und auch Straßenüberbauten zur Absicherung der Fußgänger sind aus Bambus.

Die Mädchen und Jungen am Hoteltresen heißen jetzt: Jennifer, Cherry, Vincent, Randy, Sweet und Kamen.

Für Frauen, auch noch in meinem Alter, sind Feenröcke in Mode – aus zwei Lagen Tüllstoff, eine feine Schicht über einem nude-farbenen Unterrock.

Die zwei Männer von der Guardforce holen das Geld, die Einnahmen des Tages, aus dem Starbucks. Einer hat die Geldkiste an die Hand geschnallt, der andere trägt eine Schrotflinte, ja, wirklich, eine massive, sehr große Schrotflinte.

Im Aufzug nach unten, vom 24. Stock runter, geben wir eine Miniaturaufstellung der Weltbevölkerung ab: Drei Inder, um die 30. Ich, Westeuropäerin, die älteste von uns. Dann, im 19. Stock drängt eine Gruppe Chinesen hinein, alle um die 20, sie füllen den gesamten Platz im Aufzug aus.

Weitere T-Shirt-Mottos: WILDHEART CAN’T BE TAKEN. I AM YOUR FATHER (das I leuchtet neonfarben). DIANA DEAD. CONDITION IS GOOD. I AM THE BRAND.

Ärgere mich etwas, in dieses koreanische Restaurant gegangen zu sein, das auf circa zehn Grad runtergekühlt wird. Da stellt die junge Kellnerin eine Teigtasche auf den Tisch, die irgendwie von innen wärmt, so gut schmeckt sie. Ich bestelle eine weitere und bleibe sitzen.

In der U-Bahn öffnet ein Mann neben mir auf seinem iPhone eine App: Build a watch. Er fängt an, an seiner Uhr weiterzubauen. Es scheint wie Minecraft zu sein, nur geht es um das Konstruieren einer Uhr, und auch ein Spiel mit der Zeit offenbar. Später sehe ich eine Hochglanzzeitschrift: Watches.

Die Warnvideos im öffentlichen Raum: Nimm keine Drogen, trink keinen Alkohol – illustriert mit abschreckenden Bildern: ein blutender Mensch in einer schimmeligen Dusche, ein Zwerg in einem Riesenland aus Müll, eine Kakerlake steigt über ihn, riesengroß.

Irgendwo in der U-Bahn sehe ich ein Mega-Billboard: Hold up your manhood – ein sehr gutaussehender Chinese in Businessanzug schwingt einen Hammer. Eine Werbung für Viagra.

Die Coffeeshop-Verkäuferin hat sich Nofretete-Augen geschminkt. Was bei Westeuropäerinnen albern aussähe, führt bei ihr zu einer Art antiken Schönheit im Gesicht, die ich immer wieder betrachten muss, von meinen Ecktisch aus.

Die Hochhäuser, die gerade gebaut werden, haben jeder ihren eigenen Kran auf dem Dach. Es gäbe gar keinen Platz zum Aufstellen einzelner Kräne. Erst werden die Betongerippe gebaut, Kran drauf, und dann die Fassaden hochgezogen.

 

Hongkong – letzter Teil der Reise

Man will oben wohnen, höre ich immer wieder, am liebsten ganz weit oben, und plötzlich kann ich es verstehen: nur hier hat man Sicht, Luft und Platz. Unten, in der Nähe der Erde, hat man nichts davon.

Die Skyline von Hongkong bei Nacht, sie teilt sich auf: die kleineren Tower müssen noch ihren Namen nennen – Samsung, Hitachi, Epson. Die größeren Tower, links davon, leuchten als LED-Kunstwerke. Ein Spinnennetz baut sich auf und zieht sich über die Fläche, Leuchtzeichen. Ein Matrix-Grünes Schimmern, etwas, wie ein Meer. Geometrische Muster mit 3-D-Effekt, regenbogenfarbene Streifen, die in einem unmerklichen Puls ihre Farben wechseln, im Rhythmus eines sehr langsamen Herzschlages, so scheint es.

In der höchsten Bar der Welt ist die Decke offen. Der Wind weht den Frauen ihre langen Haare um die Köpfe. Ein älterer Amerikaner erzählt mir, dass er morgen auf ein Gebäude in Macau klettern wird, um von da herunterzuspringen. Ich staune. Er wächst an meiner vorgespielten Naivität und berichtet mir sogleich intime Details aus seiner Beziehung zu einer Chinesin, schüttet sein Herz aus, das an der kühlen, rätselhaften, verschlossenen Chinesin abgeprallt sein muss. Dann geht er, da er ja morgen so früh seinen Jump hat.

Die Braut vor dem Aufzug rafft ihr Brautkleid. In ihrem Gesicht steht eine Anstrengung, das Gegenteil von Vorfreude oder Glück. In der Lobby lese ich, dass die Hochzeit heute ein Moment of Eternity sein wird. Das Gewicht der Ewigkeit stand der jungen Chinesin im Gesicht.

Aus dem 24. Stock meines Hotels in den Park geschaut, und da sehe ich an der Seite direkt THE MIRA HOTEL leuchten. Wo Edward Snowden eingecheckt hatte, hier in Tsim Sha Tsui, der quirligen chinesischen Seite Hongkongs, statt in den westlicheren Straßen auf der anderen Seite. Er hat die so genannte Dark Side von Hongkong vorgezogen. Bei den Brokern, den Engländern und Australiern, die ich in einer Bierbar in Central kennen lerne, staunt man auch, wie es mich auf diese Seite der Stadt verschlagen hat. Gut, wenigstens die Aussicht auf Hongkong sei gut, sagt einer.

Snowden ist sicherlich ihr Held nicht. Sie sind Freitagnachmittag so gegen halb sechs mittelmäßig bis sehr betrunken, nur der Amerikaner unter ihnen ist zurückhaltener und kann noch ohne zu schwanken stehen, als ich die Bar gegen halb acht wieder verlasse.

Mein Traum in der Nacht: der chinesische Geheimdienst hat Mücken im Einsatz, die Menschen stechen und sie in eine Art Narkose versetzen. Auch mich trifft es. Ich spüre noch, wie die Mücke mich sticht und vergesse, wer ich bin. Meiner Identität beraubt, wache ich noch einmal kurz auf und bitte ein fremdes chinesisches Ehepaar, meinem Mann Bescheid zu sagen. Ich notiere seine Handynummer, aber bin nicht sicher, ob ich die letzte Ziffer schaffe. Mein Pass ist im Tresor, aber der Code ist mir entfallen. Jemand wird das Rätsel meines Lebens lösen müssen. Da das nicht passieren wird, denke ich beim Aufwachen, bin ich wohl in China verschwunden.

Im Café sitzt ein Pärchen hinter mir, er bespricht die großen Themen des Lebens, als spreche er über ein geschäftliches Projekt: Er will heiraten, sie kann ihn heiraten, wenn sie will, er will auch Kinder, wenn sie Kinder will. The pressure is so high, sagt er mehrmals, so viel Druck, aber man muss das ja machen. Sie sagt wenig, und wenn, sehr leise. Es klingt, als hätten sie nur eine Nacht verbracht, sitzen jetzt schüchtern bei Tageslicht zum Frühstück zusammen, und sie versteht nicht, warum er gleich alle großen Themen verhandeln muss.

Ich sehe wenige Mütter mit ihren Kleinkindern, Babys, Neugeborenen. Oftmals sind es die Großmütter, die tagsüber die Kinder durch die Straße tragen, im Bus auf dem Schoß, den Kinderwagen schieben. Einige Großmütter machen auf mich den Eindruck, dass sie sich das so eigentlich nicht vorgestellt hatten: in ihrem Alter noch mal wieder sich um ein Kleinkind kümmern zu müssen. Aber ihnen scheint keine Wahl zu bleiben.

Ein Mal sehe ich einen Großvater. Er hat eine Art Tragesitzkissen um die Hüfte geschnallt, darauf führt er seinen höchstens halbjährigen Enkel wie auf einem Thron spazieren.

Eine sehr alte Chinesin im Man Mo-Tempel sitzt ganz hinten, hinter einer Säule, zwischen den Schreinen, und faltet eine große pinkfarbene Plastiktüte zusammen, bis sie klein und flach wie eine Postkarte ist.

Ein amerikanisches oder europäisches Touristenpärchen zündet mit heiligen Gesichtern Räucherstäbchen an. Er steckt in jeden Sandtopf, den er finden kann, ein paar Stäbchen, sie fotografiert ihn dabei unablässig, als machte er die außergewöhnlichste Erfahrung der Welt. Überall steht, dass man im Tempel nicht fotografieren soll.

Das Sonnenlicht, das durch das Glasdach des Tempels fällt, bricht sich im Dunst der spiralförmigen, lampenschirmartigen Räucherstabkronen, die eng an eng von der Decke herabhängen.

Die Luft ist da, wo Weihrauch und der Räucherstabgeruch ist, schwerer, als der Luftzug, der durch einen der schwarzstaubigen, uralten Ventilatoren in den Wänden kommt, was nur ab und zu passiert.

Ein junger Chinese in Khakis und Yamamoto-Polohemd zündet einen dicken Strauß Räucherstäbchen an und betet an jedem Schrein. Sein weißes iPhone6 steckt in seiner Gesäßtasche und schiebt sich immer etwas heraus, wenn er sich hinkniet und betet.

Er hält sich die Räucherstäbchen an die Stirn. Jemand trommelt. Alle, die hier sind und beten, machen den Eindruck, sich besinnen zu wollen. Die Touristen, die hindurchströmen, machen daraus ein Event. Wieder trommelt jemand in der Nähe des Eingangs.

Eine Gruppe amerikanischer Chinesinnen fallen in den Tempel ein, alle mit Go-pro-Stäben, an denen ihre iPhones hängen. Selfies allerorten.

Die alte Chinesin geht durch die Gänge zwischen den Schreinen und räumt auf, sie betet und redet ohne Pause, dann zieht sie sich hinter ihre Säule zurück und liest in einem alten Buch mit großen chinesischen Schriftzeichen, von hinten nach vorne.

Die Männer hinter dem Räucherstab-Verkaufstresen rauchen. Zahlreiche Kalender, drei Uhren, ein riesengroßer offener Stromkasten, Hinweisschilder in Chinesisch und Englisch rahmen sie ein.

Wir haben, erzählt mir S., auch mit den Todesarten zu tun, wie wir gestorben sind, in unseren früheren Leben. Gewaltsam zu Tode gekommen zu sein, im vorherigen Leben – der Gedanke verursacht eine seltsame Regung in mir, ein Schaudern, ob der Möglichkeiten nicht nur von Leben, sondern auch von Sterben.

Jetzt, in einer Art domestiziertem Tacheles im Hongkonger SoHo, sehe ich das Jalousienkleid wieder, das ich ganz zu Beginn der Reise, in Peking an einer jungen Chinesin gesehen hatte. Ein Kleid wie aus einer Jalousie, die halb geöffnet ist. Cocktailkleidschnitt, weit ausgestellt, oben enganliegend. Es sind Stoffe, die durch Taft oder Plastik verstärkt sind, Korsagen-Silhouetten, Kleider aus der Zukunft. Und dann werden aber alte chinesische Motive darauf gedruckt. Ein Kleid, ein Kunstwerk. Es gibt gar nicht meine Größe. Bezahlen könnte ich es auch nicht. Nehme einfach den Anblick mit, den inspirierenden Umgang mit Alt und Neu in einem Kleid.

Junges Design, kleine Pop-Up-Stores, ein Konzept, das es auch nach Berlin geschafft hat. Hat es das? Pop-Up-Stores an Orten, die bald umgewandelt werden, für eine Zeit zwischengenutzt von Künstlern, deren Kunst meist Kunsthandwerk ist, und die es verkaufen wollen. Zum Teil naive Sachen, aber dann: ganz besondere Keramik, Porzellan, jede Tasse ein Kunstwerk. Geschirr aus Bambus, bemalt mit alten Motiven in neuen Farben. Schmuck aus filigranen versilberten Blüten, Ledertaschen, die einen ein Leben lang begleiten, Hipsterbrillen für die Hipster der Zukunft, und mit einem Mal höre ich, dass deutsche Musik läuft, ich glaube Clueso, und kurz darauf Tocotronic. Seltsam, das Deutsche zu hören, in diesen Pop-up-Store in Hongkong.

Nach dem Mittagessen schlafen viele, rückwärts gekippt im Plastikstuhl, auf einer Parkbank, am Rand eines Brunnens. Das Schutzlose in der tosenden Welt, ungeschützt im Schlaf, rührt mich jedes Mal wieder.

Aus Versehen gerate ich in die Schlange zur Fähre nach Macau. Samstagmorgen fährt man zum Glücksspiel auf die Insel, die ganze Familie, jeder ist schick angezogen, die Männer mit Krawatte, die Frauen in hohen glitzernden Schuhen.

Wie ein moderner Fabrikschornstein, so ragt das ICC auf, darin aber keine Fabrik, die was verbrennt und ausstößt, sondern Edelboutiquen, einige Banken, darunter die Deutsche Bank, und das Hilton. Jetztzeit-Industrie auf der äußersten, aufgeschütteten Kante von Kowloon.

Eine Polizeipatrouille aus drei Booten und einem Hubschrauber fährt um die alte Star-Ferry herum, die zwischen Kowloon und Hongkong verkehrt. Irgendwie rechne ich immer noch damit, wie in meinem Traum, vom chinesischen Geheimdienst verhaftet zu werden für etwas, von dem ich nicht wusste, dass es verboten ist.

Nach einer Weile habe ich das Gefühl, viele Chinesinnen schon einmal gesehen zu haben. Sie ähneln sich. Sehen wir Westeuropäer uns in ihren Augen auch alle ähnlich?

Eine Karikatur seiner selbst ist der grauhaarige, weiße, tief Südstaatendialekt sprechende Country-Sänger in der Gangway des ifc-Shopping-Centers, in seinem Neon-T-Shirt mit Bart und beklebter Gitarre, wie er Mrs. Robinson zur Verstärkermusik intoniert.

Die Amerikanerin im Nail-Spa hat einen gelangweilten, tief genervten Gesichtsausdruck, noch, als die Chinesin versucht, ihr die Sandalen auszuziehen. Als sie jemand anruft, der vorbeizukommen ankündigt, sagt sie: Nein, komm hier nicht her, ich sitze in so einem crappy place. Ich hoffe, dass die Chinesin die Beleidigung, ihr Nagelstudio sei beschissen, nicht verstanden hat.
Der Frau scheint die ganze Welt eine Zumutung zu sein. Die Managerin neben mir im Polstersessel kommt von den Cook-Islands und mutmaßt, dass ich mir nach einer anstrengenden Arbeitswoche in China selbst etwas Gutes tue: You treat yourself, sagt sie wissend, weil es das ist, was wir hart arbeitenden Frauen zu machen haben – am Samstagvormittag im Nail-Spa, im Waxing-Studio, auf der Massage-Liege.

Jetzt habe ich zum ersten Mal diese Finger- und Fußnägel, die alle haben, mehrere Schichten Schelllack, der nur in einem deutschen Nagelstudio (was für ein Name im Vergleich zu Nail-Spa?) abgemacht werden kann.

Die großgewachsenen Hongkong-Chinesen haben ein ganz eigenes Selbstbewusstsein – sie sind durchtrainiert, breiter als andere, sie umgibt das Gefühl von Macht, als kämen sie von einer amerikanischen Elite-Uni, eine Aura, die sie unübersehbar von ihren Landsleuten unterscheidet.

Ältere Australier, Engländer und Amerikaner haben am Samstagmorgen ihre Business-Anzüge gegen T-Shirt und Shorts eingetauscht und sitzen – etwas verloren wirkend, ziellos, rastlos – um 12 Uhr mittags in einem der Pubs in SoHo vor einem Bier, und haben oft noch müde Gesichter vom Trinken, von der letzten Nacht.

Chinesen stehen ganz geduldig in Schlangen: Vor der Bäckerei, an der Ferry-Station, an der Bushaltestelle, vor der Chanel-Dependance und dem Gucci-Flagshipstore, ganz ruhig wird auf Einlass, Durchlass, auf den Erfolg einer Mission, das Erreichen eines Ziels gewartet.
Ich lerne, dass Chinesinnen manchmal lange Zeit darauf sparen, eine Chanel-Tasche zu kaufen. Samstags wird immer wieder zum Laden gegangen, auf Eintritt gehofft, bis das Original erstanden werden kann. Die chinesischen Kopien, die sind für uns West-Europäerinnen, die es billig haben wollen.

Studentinnen sprechen Passanten an, die eilig um 12 Uhr aus dem Büroturm zum Essen an ihnen vorbei strömen: Show that you care – register now! Sie sollen ihre Stimme registrieren, um zu zeigen, dass sie frei wählen wollen. Kaum einer bleibt stehen. Die Studentinnen wirken müde.
In einer Gasse hatte ich den Aufkleber gesehen: HK shakes the great wall.
Bei meiner Ankunft in Paris sehe ich Fernsehbilder aus Hongkong, die eine Protestkundgebung zeigen. Ich bin irritiert, dass ich in der Stadt selbst gar nichts davon mitbekommen habe.

Die Autorin dankt dem Goethe-Institut Peking und Hongkong und allen Beteiligten für die Einladung nach China und das Ermöglichen der Reise.